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Gebärdensprachdolmetschen im Spital – ein Portrait mit Sascha Thiemeyer

Stellen Sie sich folgendes Szenario vor: Sie liegen im Spitalbett. Die Ärztin steht vor Ihnen und erklärt den genauen Ablauf Ihrer bevorstehenden Operation. Doch es gibt eine Barriere: Sie sind gehörlos und können die Ärztin nicht verstehen.

In einer solchen Situation kommt Sascha Thiemeyer zum Einsatz. Er ist diplomierter Gebärdensprachdolmetscher und ermöglicht in verschiedensten Fällen, dass Menschen sich miteinander verständigen können.

Wie er zum Beruf Gebärdensprachdolmetscher kam und was gerade beim Dolmetschen im Spital ganz besonders herausfordernd ist, erklärt er uns im folgenden Interview. 

Sascha, du bist professioneller Gebärdensprachdolmetscher. Was bewegte dich dazu, diesen Berufsweg einzuschlagen?

Schon immer war ich von Sprachen fasziniert und ich habe mich in meinem ersten Studium mit slavischen Sprachen, vor allem Russisch, auseinandergesetzt. Gebärdensprachen finde ich aufgrund ihrer Modalität – manuell, mit Händen, Gesicht und Oberkörper im 3D-Raum – speziell interessant und habe darum den Bachelor Gebärdensprachdolmetschen an der Hochschule für Heilpädagogik in Zürich Oerlikon abgeschlossen.

Ich bin sehr dankbar, mit der wunderbaren Deutschschweizer Gebärdensprache (DSGS) arbeiten zu dürfen und unterschiedlichsten Menschen in vielen verschiedenen Situationen begegnen zu können. Hörende und gehörlose Menschen im gegenseitigen Verstehen und Kommunizieren zu unterstützen ist jeden Tag eine schöne und befriedigende, aber auch herausfordernde Arbeit.

Als 2021 die Firma dolmX gegründet wurde, wurdest du für den allerersten Dolmetschereinsatz gebucht. Wie war diese Erfahrung für dich?

dolmX hat von Anfang an ein Angebot von Verdolmetschungen in und aus den drei Schweizer Gebärdensprachen angedacht – sehr cool. Die grundlegende Idee finde ich gut: Verdolmetschungen für Spitäler günstiger und attraktiver zu gestalten, indem bei der Reisezeit gespart werden kann. So werden hoffentlich mehr Patient:innen mehr Gespräche im Spital mit eine:r Dolmetscher:in führen können.

dolmX hat die technische Seite dieser Dolmetscheinsätze super im Griff: Die Dolmetschplattform war für mich bei diesem ersten Einsatz einfach zu bedienen und hat reibungslos funktioniert. Es kamen eine Ärztin und eine Patientin zusammen, um eine anstehende Operation vorzubesprechen. Natürlich war es super, dass für dieses wichtige Gespräch durch dolmX sehr kurzfristig eine Verdolmetschung möglich wurde; das Spital hat dieses Gespräch erst am gleichen Morgen geplant und dafür einen Dolmetscher bestellt. Ärztin und Patientin haben sich aus meiner Sicht gut verstanden und der Dolmetscheinsatz ist gelungen.

Es muss sich aber noch zeigen, für welche Einsätze und welche gehörlose Patient:innen diese Online-Form von Verdolmetschung passt und welche Gespräche im medizinischen Bereich auch in Zukunft mit einer Dolmetscher:in vor Ort verdolmetscht werden sollen.

Was ist spezifisch bei Dolmetscheinsätzen im Spital, sei es vor Ort oder per Video, ganz besonders wichtig aus deiner Sicht?

Bei medizinischen Gesprächen müssen Arzt oder Ärztin und Patient:in sich sicher fühlen, dass ihre Fragen und Antworten korrekt verdolmetscht werden und beim Gegenüber richtig ankommen. Das gegenseitige Verständnis kann einen Einfluss darauf haben, ob eine richtige Diagnose gestellt wird, der oder die Patient:in eine informierte Entscheidung treffen kann und wie erfolgreich die Behandlung sein wird.

Deshalb ist es besonders wichtig, als Dolmetscher:in bei eigenem Unverständnis nachzufragen, beim Arzt oder bei der Ärztin um Umformulierungen oder Erklärungen zu bitten und sicher zu sein, dass Symptome richtig verdolmetscht werden. Als Dolmetscher:in sollte man auch keine Hemmungen haben, Dinge im Raum sprachlich einzubinden, also auf Bilder, Rezepte, Körpermodelle oder medizinische Instrumente zu zeigen oder sogar den Arzt oder die Ärztin zu bitten, zusätzliche anatomische Bilder oder Modelle bereitzustellen.

Eine Herausforderung beim Dolmetschen im Spital ist auch die Vielfältigkeit der gehörlosen Patient:innen. Menschen jeden Alters, jedes Bildungsniveaus und jedes sprachlichen Hintergrundes benötigen verschiedenste medizinische Behandlungen. Es kann also sein, dass ich für ein vierjähriges Kind, eine erwachsene Person mit Doktortitel oder einen geflüchteten Jugendlichen ohne Schulbildung und mit einer fremden Gebärdensprache als Muttersprache dolmetsche.
Gebärdensprachdolmetscher:innen müssen darum die eigenen Grenzen erkennen, ehrlich kommunizieren und nötigenfalls einen gehörlosen Kollegen oder eine gehörlose Kollegin, eine:n sogenannte:n Kulturvermittler:in beiziehen lassen. Denn alle Patient:innen haben das Recht, die eigene Diagnose und Behandlung genau zu verstehen und vom medizinischen Personal verstanden zu werden.

Wie hat aus deiner Sicht das Videodolmetschen die Arbeit mit Patient:innen im Spital verändert?

Beim Videodolmetschen sehen Dolmetscher:innen bloss einen kleinen Ausschnitt der Situation und haben nur den oder die gehörlose Patient:in im Blick. Andere hörende Personen, der Arzt oder die Ärtzin, die Fachperson Gesundheit usw., bleiben für den oder die Dolmetscher:in unsichtbar. Ebenfalls ist der oder die Dolmetscher:in nur über einen Bildschirm zu sehen. Arzt oder Ärztin und Patient:in können so das Gefühl erhalten, zu zweit im Raum zu sein und direkt kommunizieren zu können. Möglicherweise ist das angenehmer, vor allem für die hörenden Personen.

Der oder die Dolmetscher:in jedoch hat durch diese beschränkte Sicht weniger Informationen zur Situation; beispielsweise bleiben Unterlagen, Modelle des menschlichen Körpers, Röntgenbilder usw. unsichtbar, falls sie nicht direkt angesprochen und in die Kamera gehalten werden. Somit können die visuellen Informationen und Materialien nicht gebärdensprachlich einbezogen werden.

Dazu ein Beispiel: Es gibt in der Deutschschweizer Gebärdensprache viele Möglichkeiten, das deutsche Wort «Knochenbruch» zu gebärden. Welche Form aber soll ich als Dolmetscher wählen, wenn ich nur den unverletzten Oberkörper des Patienten oder der Patientin sehe und keinen Blick auf Röntgenbilder und kein Vorwissen zu dieser Situation habe? Eine unpassende Gebärdenwahl kann in einer solchen Situation verwirrend bis unverständlich sein.
Dolmetscher:innen müssen solche medizinischen Settings also behutsam «managen», die Situation beiden Seiten erklären und sich während des Dolmetschens selbstbewusst alle nötigen Informationen erfragen.

Mit welcher Art von Aufträgen bist du aktuell beschäftigt?

Als selbständiger Dolmetscher arbeite ich auf Auftragsbasis und vor allem mit meinen gehörlosen und hörenden Stammkundinnen und Stammkunden zusammen. Ich arbeite überall dort, wo ich gebraucht werde: bei Elterngesprächen in der Schule, Meetings, Tagungen, Weiterbildungen, Psychotherapien, Vorträgen, Demonstrationen, in Spitälern oder beim Gericht.
Ich arbeite vor allem vor Ort und reise dafür in viele  Städte und Dörfer in der gesamten Deutschschweiz. Online-Einsätze leiste ich ebenfalls bei Bedarf über Teams, Zoom oder eben mit der dolmX-Plattform.

Was würdest du angehenden Gebärdensprachdolmetscher:innen mit auf den Weg geben?

Ein vorgezogenes Willkommen in der Community der Gebärdensprachdolmetscher:innen! Mach dich bereit für lebenslanges Lernen, Schleifen deiner Sprachkenntnisse, Dolmetschtechniken und deiner Selbstfürsorge und freu dich auf immer wieder neue, herausfordernde, spannende Einsätze, Begegnungen und Erfahrungen.